von Dominik Neininger
Es sind alarmierende Ergebnisse: Laut einer neuen Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) nimmt die soziale Ungleichheit in Deutschland weiter zu. Während in den Neunzigerjahren noch 3.1 Prozent der Bevölkerung in dauerhafter Armut lebte, sind es laut aktuellen Zahlen bereits 5,4 Prozent. Ebenso ist die Anzahl der Reichen im gleichen Zeitraum deutlich angestiegen. Auch wenn diese Zahlen für viele bereits bedrohliches erahnen lassen, so wird doch in der medialen Berichterstattung nur relativ selten darauf hingewiesen, welche unmittelbaren Konsequenzen sich daraus für das Leben der Menschen ergeben.
Im Bereich der Soziologie gibt es eine Forschungsrichtung, die sich mit dem Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und Gesundheit beschäftigt.
Die empirischen Erkenntnisse sind eindeutig: Menschen mit einem niedrigen sozioökonomischen Status haben eine deutlich höhere Wahrscheinlichkeit chronisch zu erkranken und früher zu sterben als Menschen mit einem höheren sozioökonomischen Status.
Auch wenn die durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland – genauso wie in anderen modernen Industrienationen – stetig ansteigt, wird bei genauerer Betrachtung ersichtlich, dass dies nur die halbe Wahrheit ist. Während die reicheren und gebildeteren Menschen im Zeitverlauf immer älter geworden sind, haben die ärmeren und weniger gebildeten von dieser Entwicklung nur wenig bis gar nicht profitiert. Der Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und Gesundheit ist speziell bei Männern sehr ausgeprägt, bei Frauen scheint dieser Effekt wiederum schwächer zu sein.
Matthias Richter und Klaus Hurrelmann haben bereits im Jahr 2009 das Buch Gesundheitliche Ungleichheit veröffentlicht, welches diesen Tatbestand beschreibt. Doch warum sterben Menschen mit einem niedrigen sozioökonomischen Status früher? Hierzu gibt es mehrere Theorieansätze. Der womöglich offensichtlichste bezieht sich auf das individuelle Verhalten (1). Menschen mit geringer Bildung rauchen beispielsweise häufiger, ernähren sich ungesünder und machen weniger Sport. Auch hier zeigt sich: Speziell Männer der unteren sozialen Schicht verhalten sich ungesünder. Frauen wiederum setzen sich durchschnittlich weniger häufig gefahrvollen Verhaltensweisen aus. Könnte man angesichts dieser Erklärung nicht zu der Schlussfolgerung kommen, dass die jeweiligen Menschen selber schuld sind für ihre gesundheitlichen Probleme? Ob man raucht und sich schlecht ernährt ist einem doch selbst überlassen. Es ist eine freie Entscheidung. Die meisten Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler würden dieser Annahme wohl nicht folgen, denn jeder Mensch wird in einen sozialen Kontext hineingeboren. Ob dieser Kontext eher wohlhabend, intellektuell, fußballbegeistert, religiös, autovernarrt oder konservativ ist, ist sozusagen rein zufällig. Niemand kann etwas dafür, wo und als was er geboren wird. Die ersten Lebensjahre in einem spezifischen sozialen Milieu sind jedoch entscheidend für zukünftige Einstellungen und Verhaltensweisen.
Das Argument der freien Entscheidung ist in diesem Zusammenhang ein schwieriges und vergisst die Einbettung eines jeden in ein soziales Netzwerk mit jeweils eigenen Normen, sozialen Anerkennungsformen und Sanktionsmechanismen.
Damit lässt sich aus soziologischer Sicht auch erklären, warum speziell Männer gesundheitsgefährdendes Verhalten aufzeigen. Während in Zeiten von #metoo und #aufschrei zu Recht über die ungleiche Situation von Männern und Frauen weltweit diskutiert wird, so wird der zum Teil negative Einfluss männlicher Stereotype auf männliches Verhalten oftmals vernachlässigt. Gerade in Bezug zur Gesundheit ist dieser jedoch folgenschwer. Von Männern wird oft erwartet, dass sie aggressiv, dominant und mutiger auftreten. Dies wirkt sich auf ihr Verhalten aus und kann fatale gesundheitliche Folgen begünstigen.
Neben dem Ansatz individuellen Verhaltens gibt es zudem strukturelle Faktoren, die die Lebenserwartungen von unterschiedlichen sozialen Statusgruppen beeinflussen (2). Es klingt plausibel, dass ein Mensch nur in Abhängigkeit seiner ihm zur Verfügung stehenden Ressourcen zwischen verschiedenen Handlungsoptionen wählen kann. Aber all die Handlungsoptionen, für die er nicht genügend Geld und keine ausreichende Qualifikation besitzt, sind von Beginn an ausgeschlossen. Das bezieht sich beispielsweise auf den Wohnungsmarkt. Eine Person, die ein nur geringes Einkommen besitzt, kann sich nur in bestimmten Stadtgebieten in Freiburg eine Wohnung leisten. Wohlhabendere Gegenden wie Herdern sind oftmals ausgeschlossen. Mit einem geringen Einkommen reicht es, speziell in Zeiten stark ansteigender Mietpreise und einer großen Nachfrage an Wohnungen, oftmals nur für Wohnungen, die sanierbedürftig sind und sich in Stadteilen mit erhöhter Kriminalität oder mit einer erhöhten Lärm- und Emissionsbelastung befinden. Auch führt eine geringe Bildung oftmals zur Wahl eines Berufes, der mit erhöhten Risiken für die Gesundheit verbunden ist. Dies betrifft die physische Gesundheit, beispielsweise die Arbeit als Dachdecker oder als Bauarbeiterin, und die psychische Gesundheit, die zusätzlich ins Gewicht fällt, wenn für die harte Arbeit die dafür erhaltende Belohnung in Form von Einkommen oder sozialer Anerkennung weitestgehend ausbleibt. Im schlimmsten Fall arbeitet man in einem körperlich anstrengenden Beruf, der nach wenigen Jahren körperliche Schäden zur Folge hat, und der zudem von seinen Mitmenschen nicht honoriert wird, wodurch psychische Erkrankungen wahrscheinlicher sind.
Etwas überspitzt könnte man vermuten, dass die neoliberale politische Ausrichtung in den letzten Jahrzehnten und speziell die Einführung von Hartz IV im Jahr 2005 zu einer Erhöhung des Bruttoinlandsproduktes und zu höheren Kapitalrenditen geführt hat, der dadurch entstandene Niedriglohnsektor und Anstieg atypischer Beschäftigungsverhältnisse jedoch zu einer Verschlechterung gesundheitlicher Zustände der niedrigeren Statusgruppen führte.
Wie Klaus Richter und Matthias Hurrelmann nachweisen konnten, wurde die gesundheitliche Ungleichheit in den letzten Jahrzehnten in vielen Staaten nicht geringer sondern stieg an. Die USA, als Idealtyp eines wirtschaftsliberalen Systems, sind hierbei bereits einen beängstigenden Schritt weiter. Die US-Gesundheitsbehörde CDC teilte im Jahr 2018 mit, dass die durchschnittliche Lebenserwartung in den USA zum ersten Mal im Vergleich zum Vorjahr gesunken ist. Als Ursachen wurden ein Anstieg an Drogenkonsum und Suiziden identifiziert. Somit stellt die USA die einzige moderne Industrienation dar, in der jemals ein Abwärtstrend in der gesundheitlichen Entwicklung gemessen wurde.
Dominik Neininger ist Absolvent (M.A.) der Soziologie an der Uni Freiburg mit Schwerpunkt Makrosoziologie, Digitalisierung, Globalisierung und Wohlfahrtsstaatsanalyse.
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