Ein Kommentar von Dominik Neininger
Wenn man sich mit Studierenden über Politik unterhält, fällt immer wieder auf, wie viele sich nach einer größeren politischen Wirksamkeit sehnen. Sie wollen mehr Mitbestimmungsmöglichkeiten im politischen Entscheidungsprozess und fühlen sich von aktuellen Debatten weitestgehend ausgeschlossen. Von mehr Demokratie im Sinne von Volksbefragungen oder sogar von einer liquid democracy ist die Rede. Im Zeitalter der Digitalisierung wäre dies nach der Ansicht vieler Menschen relativ unkompliziert handhabbar. Ungeachtet der Risiken, die bei einem solchen Verfahren durch Hacker verursacht werden könnten, scheint die Idee, mit einigen wenigen Klicks über eine Vielzahl an Sachthemen direkt entscheiden zu können, als verführerisch.
Ein Beispiel, bei dem die direkte Demokratie in der jüngsten Vergangenheit eingesetzt wurde, ging jedoch gründlich schief. David Cameron, der ehemalige britische Premierminister, kündigte im Jahr 2013 an, ein Referendum über den Austritt aus der europäischen Union abhalten zu wollen. Im Juni 2016 stimmte eine knappe Mehrheit der britischen Bevölkerung für einen Austritt. Nicht nur über die Entscheidung an sich, sondern speziell über die Uninformiertheit vieler Bürgerinnen und Bürger, welche Konsequenzen ihre Wahlentscheidung haben würde, wurde in den Tagen danach heftig diskutiert.
Bei der Analyse der Brexit-Entscheidung spielt die Zeit, in der wir leben, eine wichtige Rolle. Durch die sozialen Medien ist für viele Menschen eine neue Wirklichkeit entstanden. Menschen, die mit ihrer politischen Meinung immer als Minderheit angesehen wurden, finden im weltweiten Netz Gleichgesinnte. Durch smarte Algorithmen von Google und Co. werden Menschen, deren Interessen immer genauer erfasst werden können, mit Empfehlungen überhäuft. Dadurch werden nur noch ähnliche Inhalte angezeigt. Diese Form des Algorithmus kann sehr hilfreich sein, beispielsweise um bei Spotify einen neuen Song zu finden, besitzt jedoch im politischen Rahmen ein Potential zur Radikalisierung von bereits bestehenden Annahmen. Ein linksliberaler Mensch wird bei häufiger Nutzung sozialer Medien fast nur noch linksliberale Videos und Beiträge erhalten, das gleiche gilt für konservativ eingestellte, und so weiter. Durch diese Form der Nutzung sozialer Medien entsteht eine stärkere Abgrenzung zu anderen Gruppierungen, wodurch die Fähigkeit verloren geht, konstruktiv in Sachfragen miteinander zu diskutieren und Kompromisse einzugehen. In einer entstehenden individuellen und idealen Digitalrealität, die durch das Anmelden mit seinem Account und dem stetigen Preisgeben an Daten immer perfekter für den einzelnen User zugeschnitten werden zu scheint, ist kein Platz mehr für ungeliebte Gegenargumente und andere Einstellungen.
Bevor die Idee von mehr direkter Demokratie umgesetzt werden sollte, muss sich also die politische Kultur in einer digitalen Welt verändern.
Ein Problem ist nicht nur die Radikalisierung durch die Algorithmen des Silicon Valleys, sondern generell das an der Realität scheiternde Ideal des rationalen Wählers. In der politischen Soziologie, einer sozialwissenschaftlichen Unterdisziplin, die sich unter anderem mit dem Wahlverhalten von Wählerinnen und Wählern auseinandersetzt, sind bereits in den 1960er Jahren empirische Befunde aufgezeigt worden, dass der Durchschnittswähler nur geringfügig in der Lage ist, mit politischen Inhalten kompetent umzugehen. Dies behauptet beispielsweise Phillip E. Converse, einem der wichtigsten politischen Soziologen seit deren Bestehen. Auf Basis von Inhaltsanalysen zu offenen Fragen kam er zu dem Ergebnis, dass nur jeder zehnte Staatsbürger und jede zehnte Staatsbürgerin den Ansprüchen eines rationalen Wählers, der sein Wahlverhalten nach inhaltlichen Gesichtspunkten abwägt, genügt.
Unter diesen Umständen ist es fraglich, ob die direkte Befragung der Bevölkerung zu einzelnen Sachthemen bessere Resultate erzielen würde als es Politikerinnen und Politiker im Bundestag aktuell tun. Generell sollte die entscheidende Frage wohl eine andere sein. Das Gefühl geringer politischer Wirksamkeit entsteht aus dem Gefühl der Unzufriedenheit mit der aktuellen Situation. Wenn individuelle Wünsche und Einstellungen in die Realität umgesetzt werden können, entsteht ein deutlich geringerer Anreiz, überhaupt politisch aktiv zu sein. In einer Zeit zunehmender politischer Aktivierung (Pegida, AFD, Occupy) scheint etwas aus dem Lot geraten zu sein. Der Wunsch nach mehr direkter Demokratie geht mit dem Gefühl einher, dass die politisch gewählten Repräsentantinnen und Repräsentanten den Ansprüchen eines Teils der Bevölkerung nicht genügen.
In der Tat können empirische Studien von Wilhelm Heitmeyer nachweisen, dass in der Bevölkerung seit den 2000er Jahren ein gefühlter Kontrollverlust des Staates wahrgenommen wird. Die Auslöser dieser Entwicklung sind die Folgen der Globalisierung, die Einführung von Hartz IV, die Finanzkrise, der islamistische Terrorismus und als jüngstes Beispiel die Flüchtlingskrise im Jahr 2015. Manche derer, die diesen Kontrollverlust des Staates wahrnehmen, flüchten sich in die Hände rechtspopulistischer Parteien, andere sehen die einzige Lösung eines entfesselten globalen Finanzkapitalismus, der sich den Kontrollmechanismen einzelner Nationalstaaten entzieht, durch eine stärker europäisch ausgerichtete Politik. Generell scheint es wichtig zu sein, dass das Gefühl politischer Kontrolle wiederhergestellt wird, um künftige gesellschaftliche Instabilitäten zu vermeiden. Wie sich dies im Zuge einer hochkomplexen globalisierten Welt bewerkstelligen lässt, bleibt abzuwarten.
Dominik Neininger ist Absolvent (M.A.) der Soziologie an der Uni Freiburg mit Schwerpunkt Makrosoziologie, Digitalisierung, Globalisierung und Wohlfahrtsstaatsanalyse.
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